Mittwoch, 12. Oktober 2016

Virginia

Ich stelle mich in einer Schlange an, die auf eine Bühne führt. Eine Frau prüft jeden Namen der Personen vor mir mit einer Liste in ihrer Hand. Das rote Licht der Backstage Beleuchtung wirkt bedrohlich, aber das applaudierende Publikum weckt meine Neugierde. Einer nach dem anderen werden sie von der Frau zur Bühne geschickt. Nun bin ich dran. Die Frau prüft meinen Namen, ohne mich zu fragen wie ich heiße. Mit einer Geste deutet sie auf die Bühne und ich gehe los. Blitzlichter, Applaus, ein gefüllter Saal und ein älterer Herr an einem Rednerpult. Er lächelt mich an, reicht mir die Hand und sagt kein Wort. Ich erwidere die Geste und schaue mich um. „Department of Justice Federal Bureau of Investigation“, prangert die große Flagge hinter mir an der Wand. Der Mann überreicht mir schweigend einen Ausweis mit den großen Lettern F-B-I. Applaus aus dem Publikum, Blitzlichter, dann Stille. Alle sind fort. Ich stehe allein auf der Bühne und höre nur ein monotones Piepen wie in einem Krankenhaus. Es kommt von einem Kassettenrekorder hinter mir. Ich schalte ihn aus. Stille.


Mit Verginia präsentiert das junge Entwicklerstudio Variable State sein Erstlingswerk, welches im September 2016 von 505 Games veröffentlicht wurde. Dieses recht kurze Spiel ist sehr schnell, sehr bekannt geworden, denn es unterscheidet sich in einem Punkt grundlegen von anderen Genre-Vertretern der Adventure-Spiele. Obwohl wir im ganzen Spiel mit Personen interagieren, wird kein einziges Wort gesprochen.

Handlung

Wir spielen eine junge FBI Absolventin namens Anne Tarver und erleben das Spiel aus ihrer Perspektive. Gleich zu Beginn werden wir einer Kollegin namens Halperin zugeteilt. Mit ihr zusammen bearbeiten wir den Fall um einen verschwundenen Jungen. Zugleich erleben wir die Geschichte um unsere FBI Kollegin und uns selbst. Ohne die Möglichkeit des Dialogs, müssen wir die Handlung durch genaues Beobachten der Szenerie erfassen. Trotz dieser begrenzten Möglichkeiten schafft es das Spiel eine dichte Spannung aufzubauen. Für jede neue Erkenntnis in der Geschichte stellen wir uns neue Fragen, die wir ergründen wollen. Dabei setzt das Spiel auf unsere eigene Interpretation der Geschehnisse und bietet bis zuletzt keine klaren Antworten. Metaphern, Träume und reale Handlungen vermischen sich im Spielfortschritt, sodass keine zwei Spieler alles identisch auffassen werden.

Gameplay

Wir steuern die Hauptfigur aus der Ich-Perspektive. Über die Handlung hinweg springen wir zwischen verschiedenen Orten, die uns jeweils ein begrenztes Areal zur freien Erkundung bieten. Hier kommt es nun darauf an, dass wir nach Details Ausschau halten und die wenigen, teils versteckten Gegenstände finden. So entdecken wir vielleicht einen persönlichen Gegenstand aus einer zuvor besichtigten Wohnung an einem anderen Ort und können so vermuten, dass die Person hier gewesen sein muss. Oder wir blicken hinter die Kulissen einer scheinbar normalen Familie, indem wir aus Familienfotos, den getrennten Ehebetten und dem Verhalten des streng religiösen Vaters Schlüsse über das Verschwinden des Sohnes ziehen. Mit den gesammelten Gegenständen können wir im weiteren Verlauf nichts tun. Das Aufsammeln dient lediglich der Verinnerlichung, dass wir diesen Hinweis gefunden haben. Jeder Ort, den wir besuchen, hat ein deutliches Ende und sobald wir dieses betreten oder damit interagieren, springen wir weiter in der Handlung. Dabei kann es passieren, dass wir größere Zeitabschnitte einfach auslassen und wir uns erst einmal orientieren müssen, wann und wo wir uns befinden. Wir entscheiden nicht wohin wir als nächstes gehen, denn das Spiel verläuft strikt linear. Durch diese sehr wenigen Möglichkeiten zu Interagieren und ohne eigene Entscheidungen gibt uns das Spiel den nötigen Freiraum Handlungen zu hinterfragen. Während wir durch die Geschichte geführt werden, können wir Zusammenhänge erkennen und unsere eigenen Theorien verfolgen. Wir sind wie ein Detektiv. Zwar spielen wir die Hauptfigur, erleben aber selbst nur Bruchstücke wie ein Ermittler in einem Fall, der von außen zuschaut. Damit spielt Virginia mit der eigenen Handlung um die FBI Agentin. Das eigentliche Gameplay findet also mehr in unserem Kopf statt, als an der Tastatur.

Technik

Technisch ist Verginia sicher kein Meisterwerk. Aber alle Teile passen hervorragend zum Konzept des Spiels. Die Grafik zeigt sich in einem leicht abstrakten und comichaften Stil, wodurch der Fokus auf die relevanten Dinge gelegt werden kann. Unwichtige Details entfallen einfach, ohne dass es störend wirkt. So sind Bilderrahmen leer, oder die Tastatur hat keine einzelnen Tasten. Die Steuerung ist durch die minimalen Interaktionsmöglichkeiten ebenso simpel wie fehlerfrei. Laufen, umsehen, klicken, fertig. Herausragend ist die Musik im Spiel, welche von einem Orchester eingespielt wurde. Sie ist ein tragendes Element und vermittelt die Stimmung der Szenen klar und deutlich. Ob Ruhe, Spannung, Drama oder Trauer, die Musik sitzt und hat Tiefe.

Jugendgerecht!

Freigegeben wurde Verginia von der USK ab 12 Jahren. Im Spiel gibt es keine Gewaltdarstellung oder Erotik. Zwar tauchen Alkohol und eine Anspielung auf Drogen auf, jedoch ist die Darstellung durch den Stil abstrakt und es wird kein Missbrauch propagiert. Schwieriger sehe hier die sehr komplexe und verwirrende Handlung, die für Kinder unter 12 Jahren wohl nur schwer zu erfassen sein wird. Es könnte aber gerade in der Familie einmal sehr spannend sein, dass Eltern und Kind das Spiel gemeinsam erleben und über die verschiedenen Interpretationen sprechen. Ich habe gemerkt, dass ich vieles auf Grund meiner Erfahrungen in einem anderen Blickwinkel gesehen habe als andere. Ein Kind wird die Situation in der Familie, deren Sohn verschwunden ist, anders begreifen. Das Kind wird die Perspektive des Sohnes einnehmen, Eltern hingehen die von Mutter und Vater.

Fazit

Verginia ist besonders. Wer eine vorgekaute Handlung sucht, in der man ohne viel Nachdenken abschalten kann, ist hier sicherlich falsch. Wer Adventure typisch Gegenstände kombinieren und Rätsel lösen will, geht auch besser weiter. Man muss nicht viel tun, aber sehr viel denken. Man braucht keine Lösung für etwas, sondern macht einfach weiter. Auch sollte man sich nicht scheuen am Ende verwundert und ratlos vor dem Bildschirm zu sitzen. Wen das nicht abschreckt, dem empfehle ich Virginia und wünsche zwei ruhige Stunden vertieft in den eigenen Gedanken.


Jetzt das Let's Play auf YouTube ansehen: Virginia Let's Play Folge 1

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