Ich stelle mich in einer Schlange an, die auf eine Bühne
führt. Eine Frau prüft jeden Namen der Personen vor mir mit einer Liste in
ihrer Hand. Das rote Licht der Backstage Beleuchtung wirkt bedrohlich, aber das
applaudierende Publikum weckt meine Neugierde. Einer nach dem anderen werden
sie von der Frau zur Bühne geschickt. Nun bin ich dran. Die Frau prüft meinen
Namen, ohne mich zu fragen wie ich heiße. Mit einer Geste deutet sie auf die
Bühne und ich gehe los. Blitzlichter, Applaus, ein gefüllter Saal und ein
älterer Herr an einem Rednerpult. Er lächelt mich an, reicht mir die Hand und
sagt kein Wort. Ich erwidere die Geste und schaue mich um. „Department of
Justice Federal Bureau of Investigation“, prangert die große Flagge hinter mir
an der Wand. Der Mann überreicht mir schweigend einen Ausweis mit den großen
Lettern F-B-I. Applaus aus dem Publikum, Blitzlichter, dann Stille. Alle sind
fort. Ich stehe allein auf der Bühne und höre nur ein monotones Piepen wie in
einem Krankenhaus. Es kommt von einem Kassettenrekorder hinter mir. Ich schalte
ihn aus. Stille.
Mit Verginia präsentiert das junge Entwicklerstudio Variable
State sein Erstlingswerk, welches im September 2016 von 505 Games
veröffentlicht wurde. Dieses recht kurze Spiel ist sehr schnell, sehr bekannt
geworden, denn es unterscheidet sich in einem Punkt grundlegen von anderen
Genre-Vertretern der Adventure-Spiele. Obwohl wir im ganzen Spiel mit Personen
interagieren, wird kein einziges Wort gesprochen.
Handlung
Wir spielen eine junge FBI Absolventin namens Anne Tarver
und erleben das Spiel aus ihrer Perspektive. Gleich zu Beginn werden wir einer
Kollegin namens Halperin zugeteilt. Mit ihr zusammen bearbeiten wir den Fall um
einen verschwundenen Jungen. Zugleich erleben wir die Geschichte um unsere FBI Kollegin
und uns selbst. Ohne die Möglichkeit des Dialogs, müssen wir die Handlung durch
genaues Beobachten der Szenerie erfassen. Trotz dieser begrenzten Möglichkeiten
schafft es das Spiel eine dichte Spannung aufzubauen. Für jede neue Erkenntnis
in der Geschichte stellen wir uns neue Fragen, die wir ergründen wollen. Dabei
setzt das Spiel auf unsere eigene Interpretation der Geschehnisse und bietet
bis zuletzt keine klaren Antworten. Metaphern, Träume und reale Handlungen
vermischen sich im Spielfortschritt, sodass keine zwei Spieler alles identisch
auffassen werden.
Gameplay
Wir steuern die Hauptfigur aus der Ich-Perspektive. Über die
Handlung hinweg springen wir zwischen verschiedenen Orten, die uns jeweils ein
begrenztes Areal zur freien Erkundung bieten. Hier kommt es nun darauf an, dass
wir nach Details Ausschau halten und die wenigen, teils versteckten Gegenstände
finden. So entdecken wir vielleicht einen persönlichen Gegenstand aus einer
zuvor besichtigten Wohnung an einem anderen Ort und können so vermuten, dass
die Person hier gewesen sein muss. Oder wir blicken hinter die Kulissen einer
scheinbar normalen Familie, indem wir aus Familienfotos, den getrennten
Ehebetten und dem Verhalten des streng religiösen Vaters Schlüsse über das Verschwinden
des Sohnes ziehen. Mit den gesammelten Gegenständen können wir im weiteren
Verlauf nichts tun. Das Aufsammeln dient lediglich der Verinnerlichung, dass
wir diesen Hinweis gefunden haben. Jeder Ort, den wir besuchen, hat ein
deutliches Ende und sobald wir dieses betreten oder damit interagieren,
springen wir weiter in der Handlung. Dabei kann es passieren, dass wir größere
Zeitabschnitte einfach auslassen und wir uns erst einmal orientieren müssen,
wann und wo wir uns befinden. Wir entscheiden nicht wohin wir als nächstes
gehen, denn das Spiel verläuft strikt linear. Durch diese sehr wenigen
Möglichkeiten zu Interagieren und ohne eigene Entscheidungen gibt uns das Spiel
den nötigen Freiraum Handlungen zu hinterfragen. Während wir durch die Geschichte
geführt werden, können wir Zusammenhänge erkennen und unsere eigenen Theorien
verfolgen. Wir sind wie ein Detektiv. Zwar spielen wir die Hauptfigur, erleben
aber selbst nur Bruchstücke wie ein Ermittler in einem Fall, der von außen
zuschaut. Damit spielt Virginia mit der eigenen Handlung um die FBI Agentin.
Das eigentliche Gameplay findet also mehr in unserem Kopf statt, als an der
Tastatur.
Technik
Technisch ist Verginia sicher kein Meisterwerk. Aber alle
Teile passen hervorragend zum Konzept des Spiels. Die Grafik zeigt sich in
einem leicht abstrakten und comichaften Stil, wodurch der Fokus auf die
relevanten Dinge gelegt werden kann. Unwichtige Details entfallen einfach, ohne
dass es störend wirkt. So sind Bilderrahmen leer, oder die Tastatur hat keine
einzelnen Tasten. Die Steuerung ist durch die minimalen
Interaktionsmöglichkeiten ebenso simpel wie fehlerfrei. Laufen, umsehen,
klicken, fertig. Herausragend ist die Musik im Spiel, welche von einem
Orchester eingespielt wurde. Sie ist ein tragendes Element und vermittelt die
Stimmung der Szenen klar und deutlich. Ob Ruhe, Spannung, Drama oder Trauer,
die Musik sitzt und hat Tiefe.
Jugendgerecht!
Freigegeben wurde Verginia von der USK ab 12 Jahren. Im
Spiel gibt es keine Gewaltdarstellung oder Erotik. Zwar tauchen Alkohol und
eine Anspielung auf Drogen auf, jedoch ist die Darstellung durch den Stil
abstrakt und es wird kein Missbrauch propagiert. Schwieriger sehe hier die sehr
komplexe und verwirrende Handlung, die für Kinder unter 12 Jahren wohl nur
schwer zu erfassen sein wird. Es könnte aber gerade in der Familie einmal sehr
spannend sein, dass Eltern und Kind das Spiel gemeinsam erleben und über die
verschiedenen Interpretationen sprechen. Ich habe gemerkt, dass ich vieles auf
Grund meiner Erfahrungen in einem anderen Blickwinkel gesehen habe als andere.
Ein Kind wird die Situation in der Familie, deren Sohn verschwunden ist, anders
begreifen. Das Kind wird die Perspektive des Sohnes einnehmen, Eltern hingehen
die von Mutter und Vater.
Fazit
Verginia ist besonders. Wer eine vorgekaute Handlung sucht,
in der man ohne viel Nachdenken abschalten kann, ist hier sicherlich falsch.
Wer Adventure typisch Gegenstände kombinieren und Rätsel lösen will, geht auch
besser weiter. Man muss nicht viel tun, aber sehr viel denken. Man braucht
keine Lösung für etwas, sondern macht einfach weiter. Auch sollte man sich
nicht scheuen am Ende verwundert und ratlos vor dem Bildschirm zu sitzen. Wen
das nicht abschreckt, dem empfehle ich Virginia und wünsche zwei ruhige Stunden
vertieft in den eigenen Gedanken.
Jetzt das Let's Play auf YouTube ansehen: Virginia Let's Play Folge 1
Jetzt das Let's Play auf YouTube ansehen: Virginia Let's Play Folge 1
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